Wir brauchen Brücken – keine Mauern!

Umut Ali Öksüz war letzte Woche zu Besuch bei den Puzzle-Frauen für Toleranz und Dialog e.V. in Neuss. Im Fokus stand das neue Buch „Bildungsbrücken bauen: „Stärkung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund“, welches er gemeinsam mit Prof. Dr. Ursula Boos-Nünning und anderen erstellt hat.

Analog dazu trug der Freie Pädagoge einen Vortrag zum Thema: Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland vor. Warum versagen Fachkräfte in der Schulpraxis und warum gehen viele Kinder und Jugendliche in unserem Bildungssystem unter? Herr Öksüz nannte zunächst altbekannte Begriffe, die noch immer in der Praxis Anklang finden, wie beispielsweise Migrant oder Gastarbeiter. „Das Wort Migrant hat sich in der Gesellschaft fest verankert. Keiner streitet ab, dass die älteren Generationen damals nach Deutschland eingewandert sind. Doch ist Migrant das richtige Wort für hier lebende Menschen mit einem Migrationshintergrund? Ich bin hier geboren und aufgewaschen, ich identifiziere mich mit Deutschland als meine Heimat und leugne meinen Ursprung nicht. Und genau das muss den Kindern und Jugendlichen weitergegeben werden. Sie sollen nicht entscheiden müssen zwischen Deutsch oder Türke sein. Es sind Deutschtürken oder Deutschrussen usw. Ich musste so vielen Schülern erklären, dass sie sich gegenüber ihren Lehrern oder anderen Multiplikatoren nicht rechtfertigen bzw. nicht entscheiden müssen. Denn es gibt meiner Meinung nach keine Entscheidung, wenn etwas fest zusammengehört und eine Einheit bildet.“, so Herr Öksüz.

Viele BesucherInnen verschiedener Altersgruppen, Eltern, Lehrer, und Pädagogen, waren sehr aktiv dabei, äußerten sich offen mit eigenen Erfahrungen zum Thema und tauschten sich mit dem Vortragenden aus. Herr Öksüz wollte nicht abstreiten, dass Integration eine Prämisse für eine funktionierende pluralistische Gesellschaft darstellt. Doch ist er der Meinung, dass die Wortwahl gerade in den Medien die Gesellschaft eher spaltet. „Denn Eingliederung und Integration suggerieren in Deutschland den Klang der Assimilation. Wir haben in Deutschland multikulturelle Subkulturen. Und innerhalb des Grundgesetzes ist dies in einer bunten und pluralistischen Gesellschaft auch nichts Unnormales und muss akzeptiert werden“, erklärte der Pädagoge. Auf eine weitere Entwicklung ging er ein, welche von der Gesellschaft außeracht gelassen wird: Gastarbeiter verlieren immer mehr den bekannten Status und wechseln in den Akademiker-Status. „Nun gibt es die Fatma nicht nur hinterm Herd, sondern auch als Superfatma an der Uni, als Dozentin und Doktorandin. Wir Multiplikatoren geben unseren SchülerInnen diese Bildungschancen weiter. Wieso passiert dies aber nur innerhalb des eigenen sozialen Umfeldes und nicht darüber hinaus?“ Herr Öksüz ist sicher, dass die Bildungspolitik und die Gesellschaft diese Probleme seit Jahren kennen. Seiner Meinung nach sind es die Ressourcen, die den Kindern, Jugendlichen und Eltern nicht zur Verfügung stehen, deshalb gehen viele Kinder im deutschen Bildungssystem verloren. „Verschiedene Untersuchungen und Statistiken belegen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in sämtlichen Bildungssystemen versagen. Die typischen Aussagen der Fachkräfte, dass von zuhause aus die Förderung fehle oder kein Deutsch gesprochen wird, kann ich nicht mehr hören. Wieso reden alle nur darüber, was zuhause fehlt? Warum redet niemand über die Tatsache, dass Eltern mit Migrationshintergrund eine sehr hohe Bildungsorientierung haben und diese aber durch fehlende institutionelle oder soziale Mittel nicht in Bildungserfolge umgesetzt wird?“ Deshalb gab Herr Öksüz nicht primär den Eltern die Schuld, sondern den fehlenden Ressourcen der Gesellschaft und der nicht funktionierenden Interaktion innerhalb der Praxis mit Fachkräften. „Es ist ja kein Zufall, dass Untersuchungen wie z.B. Iglu belegen, dass es den Eltern mit Migrationshintergrund schwer gemacht wird, eine Empfehlung auf die weiterführende Schule zu bekommen, trotz Elternwille. Die Superfatma sollte auf die Förderschule, weil sie zu schlecht in Mathe war, heute schreibt sie ihre Doktorarbeit. Doch sprechen wir von Bildungsgleichheit, wenn Menschen mit Migrationshintergrund nur mit viel Glück und außergewöhnlicher Motivation an ihr Ziel kommen?“ Herr Öksüz berichtete nicht nur aus eigenen Erfahrungen, sondern aus seiner jahrelangen Praxisarbeit mit vielen Kindern, Jugendlichen und Eltern. Und genau hier soll das Projekt Bildungsbrücken eine stabile Grundlage für die fehlende Interaktion bilden. Das Buch soll Fachkräfte über interkulturelle Hintergründe aufklären und durch praktisches Material an Eltern weitergeben. Denn Eltern sind die diejenigen, die gestärkt werden müssen, damit sie ihren Kindern bessere Bildungschancen ermöglichen können. Das bestätigte Herr Öksüz und beendete seine Veranstaltung mit den Worten: Viele kennen das pädagogische Bild der Wildnis. Jedes Kind ist individuell. Auch Eltern sind individuell. Eine multikulturelle und pluralistische Gesellschaft kann nicht durch Diskriminierungen auseinander getrieben werden. Wir müssen weiter an einer Brücke für ein Miteinander bauen. Wir können mit dem Projekt Bildungsbrücken bessere Bildungschancen schaffen und Eltern und Fachkräfte stärken, unsere Zukunft weiter nach Vorne zu bringen.
Die lebhafte Diskussion wurde bei türkischem Tee und Gebäck in persönlichen Gesprächen fortgeführt.

Umut Ali Öksüz zu Besuch bei den Puzzle-Frauen